#Digital 06.04.2022

Digitale Stärke in der Implantologie

Ein Hauptaugenmerk innerhalb der Implantologie liegt heute auf Planung und Umsetzung durch digitale 3D-Techniken mit dem Ziel, klinische Ergebnisse präziser, sicherer und vorhersagbarer zu ermöglichen [1]. Dr. Kay Vietor, Spezialist für Oralchirurgie und Implantologie, und seit 1995 in eigener Praxis in Langen niedergelassen, ist ein Kenner digitaler Anwendungen in der Praxis, der sein Know-how zum Thema seit mehr als 20 Jahren in zahlreichen Kursen und Publikationen weitergibt. Im Gespräch mit Zahnärztin und Fachjournalistin Dr. Aneta Pecanov-Schröder gibt Dr. Vietor Tipps für den Einstieg in digitale Arbeitsabläufe und veranschaulicht an einem Patientenfall, welche Rolle dabei 3D-Planungssysteme und Intraoralscanner haben.

„Für mich ist heute essenziell, die Datenströme aus dem Intraoralscanner und dem DVT möglichst einfach und mit wenigen Klicks an die Verknüpfungspunkte zu bekommen“, spricht Dr. Vietor einen entscheidenden Punkt an, damit ein digitaler Workflow anwenderfreundlich und effizient ablaufen kann: die Fähigkeit zum Zusammenspiel der verschiedenen Geräte, Stichwort „Interoperabilität“. Um Implantatplanungen digital durchzuführen, werden Volumendaten aus den dreidimensionalen Bilddaten, also aus dem DVT oder CT, mit den Scandaten eines Intraoralscanners (IOS) aus der Praxis oder eines Laborscanners übereinander gelagert.

Backward-Planning in 3D erleichtert Sofortversorgungskonzepte

Die Daten aus IOS und DVT können je nach bevorzugter Vorgehensweise entweder in der Praxis vorprozessiert werden oder direkt ins Labor geschickt und mit einer entsprechenden Software dort importiert werden. Während der Fachzahnarzt für Oralchirurgie schon seit 2006 auf 3D-Planung setzt, zunächst mit Simplant, inzwischen mit der Software coDiagnostiX, ist das virtuelle Abformen mit einem Intraoralscanner vor rund sechs Jahren dazugekommen. „Zu Beginn bin ich besonders bei komplexen Fällen mit schwierigen oder unklaren Knochenverhältnissen digital vorgegangen, bei denen es entscheidend war, die Implantate in die perfekte prothetische Position zu bekommen“, berichtet Dr. Vietor. „Heute setze ich auf 3D-Planung besonders bei der umfangreichen Sofortversorgung, zum Beispiel mit Full-Arch-Versorgungen, sowie bei der Sofortversorgung von Einzelzähnen und mehrgliedrigen Versorgungen im Frontzahnbereich des Ober- oder Unterkiefers.“

Waren es vor 16 Jahren eher ausgewählte Fälle, die auf diese digitale Weise geplant wurden („Aufwand und Kosten waren hoch“), nutzt Dr. Vietor bei Full-Arch-Indikationen zu 100 Prozent und im ästhetischen Bereich zu 50 Prozent mit stark steigender Tendenz die Vorteile der 3D-Planung. „Der Komfort- und Zeitgewinn für die Patienten ist maximal! Gingivale Strukturen müssen nicht nachträglich rekonstruiert werden, denn wir planen möglichst gewebeschonend und -erhaltend.“ Der Umstieg bei der Planungssoftware auf ein „intuitiv bedienbares System mit nahezu unendlichen Möglichkeiten und regelmäßigen Aktualisierungen und Innovationen war der erste Effizienzgewinn für mich. Der Wechsel zu einem lokalen Dentallabor, Dental Design Björn Roland, das den gesamten Workflow vollständig in house abbilden konnte, war der nächste große Effizienzgewinn“, resümmiert der erfahrene Zahnarzt. „Dies bedeutete kürzere Produktionszeiten, deutlich geringere Kosten, einen direkten Austausch und die perfekte Unterstützung aus zahntechnischer Sicht bei meinen implantatprothetischen Planungen“, erzählt Dr. Vietor begeistert.

Offene IOS-Systeme ermöglichen digitalen Workflow

Digitale Planung ermöglicht schonende Implantationen und minimalinvasive Eingriffe. Seit 2016 gehört der TRIOS-Intraoralscanner zum Equipment seiner Zahnarztpraxis. Solche offenen IOS-Systeme garantieren freien Datenversand im Standardformat. Dr. Vietor: „Mit dem offenen System des TRIOS Intraoralscanners in unserer Praxis arbeiten wir zeiteffizient, vermeiden analoge Umwege, steigern den Behandlungskomfort für unsere Patienten und können Zahnersatz auf Zähnen oder Implantaten ohne konventionelle Abdrücke in höchster Präzision herstellen.“ Der Oralchirurg sendet per Mausklick die DVT-Daten an die Software (z.B. coDiagnostiX, Dental Wings, Straumann Group) und führt zunächst selbst eine implantologische Vorplanung und dreidimensionale Beurteilung der Situation durch, die anschließend an seinen Zahntechniker weitergeleitet wird. Alternativ können die Datensätze zur weiteren Implantatplanung auch per Direktverbindung ins Labor gesendet werden. So werden 3D-Röntgendaten im DICOM-Format und die 3D-Modelldatensätze im STL-Format übereinander gelagert (Matching), um am Bildschirm eine prothetische optimale Implantatposition für die schablonengeführte Insertion zu finden. „Die Software ermöglicht uns, Behandlungsergebnisse realistisch zu simulieren“, so Dr. Vietor. „Für viele Patienten ist das neu und sie reagieren regelrecht geflasht.“

Im Sinne eines prothetisch orientierten Backward-Planning passt der Zahntechniker die vorgeplante Implantatposition gegebenenfalls geringfügig an und optimiert die Achsausrichtung. Der Abstimmungsprozess zwischen Behandler und Zahntechniker erfolgt in der Regel virtuell. Wenn der Behandler die Planung freigegeben hat, dann werden die erforderlichen Einzelteile, wie Bohrschablone oder provisorische Restaurationen, hergestellt. „Bei entsprechender Ausstattung der Praxis und entsprechendem Wissensstand lassen sich diese Prozesse heute auch ‚in house‘ etablieren. Ich bin allerdings sehr froh“, räumt Dr. Vietor ein, „dass ich viele dieser Prozesse delegieren und in der gewonnenen Zeit meine Patienten behandeln kann.“ Moderne Dentallabore transferieren den Datensatz der konstruierten Bohrschablone als STL-File auf den 3D-Drucker und erhalten das gedruckte Objekt in einer Stunde. Vietor erwähnt, dass das Arbeiten mit IOS-Systemen wie TRIOS auch Möglichkeiten bietet, die über das einfachere und schnellere Erstellung von Abformungen auf komfortablere Weise hinausreichen: „Wir nutzen den IOS auch intensiv für die Alignerbehandlung und profitieren von der Direktanbindung an ClearCorrect. Mit der Smile Design-App zum Beispiel lassen sich mögliche Behandlungsergebnisse simulieren, was Patienten oft verblüfft. Auch die Patientenmonitoring-App ist ein geschätztes Tool, um Patienten noch stärker einzubeziehen.“ Das erhöht zusätzlich die Behandlungsakzeptanz, merkt er an.

„Digitale Lösungen sind aus meiner Sicht längst keine Zukunftsmusik mehr, sie sind die Gegenwart“, ist Dr. Vietor überzeugt. Und doch arbeitet in Deutschland die überwiegende Mehrzahl der Zahnarztpraxen noch immer konventionell. Im Jahr 2018 waren es 15 Prozent, die einen IOS nutzten, wenn auch mit steigender Tendenz. Vor der Pandemie verzeichnete die Industrie 40 Prozent Wachstum, während die Digitalisierung der Dentallabore schon viel weiter fortgeschritten ist; in Deutschland setzen drei von vier Labore Scanner ein. Was sind Gründe für diese Zurückhaltung? „Das Verständnis für die Fülle an Möglichkeiten, die man gewinnt, den eigenen Arbeitsprozess zu vereinfachen, muss sich erst etablieren“, führt er an und ergänzt: „Ein Patient, der einmal gescannt wurde, ist für konventionelle Abformungen nicht mehr zu gewinnen. Die Nachfrage der Patienten nach IOS-Verfahren steigt jedenfalls stark an!“ Wenn darüber hinaus deutlich wird, welche Optionen sich durch den Einsatz eines IOS eröffnen und „der IOS nicht nur als digitaler Abdrucklöffel eingesetzt, sondern in eine digitale Transformation integriert wird, dann wird die Verbreitung sehr stark zunehmen“, ist sich Dr. Vietor sicher. „Für die jüngere Generation in der Zahnheilkunde ist die Anwendung des Scanners schon viel selbstverständlicher.“

Fallbeispiel

Anamnese und Befund: Ein 66 Jahre alter Patient, der gerade in den Ruhestand gegangen war, allgemeinanamnestisch mit leichter, medikamentös eingestellter Hypertonie, sowie einigen Lebensmittelallergien, stellte sich in der Praxis von Dr. Kay Vietor vor mit dem Wunsch, seine Zahnsituation deutlich zu verbessern. Aufgrund gelockerter Zähne konnte er nicht mehr abbeißen und nur noch schlecht kauen. Der klinische Befund bestätigte ein stark sanierungsbedürftiges Gebiss. Die Situation hatte sich über viele Jahre entwickelt, da der Mann in Folge einer starken beruflichen Belastung seine Mund-Gesundheit vernachlässigt hatte. Das wollte er nun ändern, um auch wieder Lebensqualität und Sicherheit im sozialen Umgang zu erhalten, und wünschte sich gesunde Verhältnisse, feste Zähne, um wieder uneingeschränkt kauen zu können. Es war ihm wichtig, dass die Versorgung möglichst wenige Behandlungssitzungen in Anspruch nehmen würde, da eine längere Anfahrt nötig war. Das Vorgehen sollte zudem wenig schmerzhaft sein und er bat um eine möglichst kurze Zeit der provisorischen Versorgung. Ganz gezielt stellte er die Frage, wie bei einer Implantation sichergestellt werde, dass die Implantate auch an der richtigen Stelle landen („Freihand kann das ja wohl nicht funktionieren“).

Planung und Therapie: Auf der Grundlage der DVT-Daten sowie der Daten des IOS erfolgte eine 3D-Planung mit der Software coDiagnostiX. Die „Unite Platform“ von 3Shape ermöglicht es, die DVT-Daten und Fotos der Patienten ins Dentallabor zu schicken. Im hier veranschaulichten Fall wurden die DVT-Daten an die Planungssoftware in der Praxis gesendet und der Behandler hat zunächst eine implantologische Vorplanung mit dreidimensionaler Beurteilung der knöchernen Situation durchgeführt. Nach Weiterleitung an das Dentallabor per Mausklick wurden die Daten dort mit dem Intraoralscan überlagert und eine entsprechende prothetische Verifizierung durch ein virtuelles Wax Up durchgeführt. Die daraus resultierende finale Planung wurde in die coDiagnostiX-Software der Praxis zurückgespielt und nach abschließender Freigabe durch Dr. Vietor erfolgte die Produktion der Bohrschablonen und provisorischen Restaurationen. Die implantatprothetische Versorgung umfasste sowohl schablonengeführte Spät- als auch Sofortimplantationen: Im Seitenzahngebiet erfolgte eine Spätimplantation mit BLT Implantaten, in der Unterkieferfront wurden BLX Implantate (Länge 14mm, Durchmesser 3,5mm) SLActive eingesetzt, um eine hohe Primärstabilität (50 Ncm) für die Sofortimplantation und Sofortversorgung zu gewährleisten.

Fazit für die Praxis

Digitalisierte Behandlungsabläufe und Fertigungsmethoden, 3D-Planung und 3D-Druck sind eindeutig schon heute labor- und praxistaugliche Prozesse. „Besonders in den vergangenen zwei Jahren waren die Fortschritte immens und es wird weiter voranschreiten“, prognostiziert Dr. Vietor. Sind die eigenen Praxisabläufe noch mehrheitlich analog, „ist die Bereitschaft, gewohnte Workflows zu hinterfragen und Lust auf Innovation gepaart mit einer gewissen Technikaffinität das A und O, um sich auf die digitale Reise zu begeben“. Dabei ist es nicht entscheidend, gleich alles umzustellen, aber in konsequenten Schritten weiterzuentwickeln, um nicht „beim digitalen Abdrucklöffel stehen zu bleiben“. Einen Tipp, äußert Dr. Vietor mit Nachdruck: „Der Support von Laborseite muss gewährleistet sein und außerdem sollte man bei der ‚digitalen Reise‘ unbedingt das gesamte Praxisteam mitnehmen. Nach einer kurzen Phase der Umstellung wird das Team die Begeisterung der Umstellung mittragen.“

(Alle Abbildungen: Dr. Kay Vietor, Langen)

Literatur:

1.    Pecanov-Schröder, A.: Die digitale Stärke in der Implantatprothetik nutzen. Erfahrungen aus Praxis, Hochschule und Labor: Trends 2021 – 3D-Planung, naturidentische Ästhetik der Restauration und des Weichgewebes sowie effiziente Arbeitsabläufe. Die Zahnarztwoche Orale Implantologie 2021(3): 33-35

2.    Tahmaseb A, Wu V, Wismeijer D, Coucke W, Evans C. The accuracy of static computer-aided implant surgery: A systematic review and meta-analysis. Clin Oral Implants Res. 2018 Oct;29 Suppl 16:416-435. doi: 10.1111/clr.13346. PMID: 30328191.

3.    Derksen W, Wismeijer D, Flügge T, Hassan B, Tahmaseb A. The accuracy of computer-guided implant surgery with tooth-supported, digitally designed drill guides based on CBCT and intraoral scanning. A prospective cohort study. Clin Oral Implants Res. 2019 Oct;30(10):1005-1015. doi: 10.1111/clr.13514. Epub 2019 Sep 9. PMID: 31330566.